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Fake-Ideale und die Sucht nach moralischer Überlegenheit

HAMBURGER UNTERNEHMER 3/2018: Gut sein ist trendy! Wohin man auch schaut – Authentizität, Menschlichkeit und Achtsamkeit sind Zeitgeist-Themen. Ein Grund zu ungetrübter Freude? Mentaltrainerin Gabriela Friedrich deckt die Schattenseiten dieses Bewusstseinswandels auf.

 

Ist es nicht wunderbar? Endlich wird die individuelle Schönheit Übergewichtiger auf den Laufstegen der Welt gefeiert, weibliche Superstars präsentieren sich authentisch und echt mit ungeschminkten Gesichtern bei Instagram und politische Inkorrektheit von Politikern bzw. Unternehmen bewirkt unmittelbar einen Shitstorm der Empörung. Ja, endlich scheinen wir uns als Gesellschaft auf neue, bessere Werte besonnen zu haben.

„Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.“ 

Kurt Tucholsky


Oder doch nicht? Kratzen wir ein wenig an der glänzenden Oberfläche, zeigt sich schnell: Die schönen neuen Ideale haben noch viel Luft nach oben! Vieles ist Illusion, schadet eher als dass es nützt und dient wohl eher dem Zweck, beim Einzelnen gute Gefühle auszulösen denn wirklich Gutes zu tun. 

Body Positivity ist schädlich!

Nehmen wir nur die Body Positivity-Bewegung, die sich formiert hat, um Frauen von dem gesellschaftlichen Druck zu befreien, sich nur mit Kleidergröße 34/36 schön fühlen zu dürfen. Nun sind Übergewicht bzw. Adipositas in der Regel visuelle Indikatoren für Fehlernährung und Bewegungsmangel, weshalb sich die Frage stellt: Welche langfristigen Konsequenzen hat diese gut gemeinte Idee der Body Positivity? Die Deutschen sind bereits die dicksten Europäer – tun wir dem Einzelnen und der Gesellschaft wirklich einen Gefallen, den Trend zur Fettleibigkeit noch zu verstärken?! 

Künstliche Naturschönheiten

Natürlichkeit ist in. Deshalb sieht man in letzter Zeit vermehrt weibliche Stars, die sich ungeschminkt zeigen und dabei hinreißend aussehen. Ihre Fans loben sie für den Mut, sich derart „nackt“ zu zeigen, und eifern dem nach. Doch die Bemühungen der Fans führen häufig zu Enttäuschung und Frust. Warum? Weil sie belogen wurden. Visagisten der Stars erzählen, wie viele Stunden Arbeit notwendig sind, um ein Make-up zu zaubern, das die Illusion einer makellosen Naturschönheit erzeugt. Und selbst bei den wirklich ungeschminkten Stars ist der strahlende Teint kein Ergebnis müheloser Authentizität, sondern eines aufwändigen, kostspieligen täglichen Beautyprogramms. 


Moralische Überlegenheit als neue Sucht

Für Unternehmen ist es von existenzieller Bedeutung, einen besonders düsteren Aspekt des neuen Gesellschaftsbewusstseins zu kennen: das Streben nach moralischer Überlegenheit. Erinnern Sie sich an den Kapuzenpullover von H&M mit dem Aufdruck „Coolest Monkey in the Jungle“, getragen von einem kleinen, schwarzen Jungen? Das Foto löste einen Aufschrei der Empörung aus, H&M wurde wegen Rassismus geächtet und der Aktienkurs des Kleidungsgiganten rauschte in den Keller. Exemplarisch für die Sichtweise der Kritiker ist der Tweet des kanadischen Musikers The Weeknd: "Seit ich heute Morgen aufgewacht bin und dieses Foto sah, bin ich schockiert und beschämt. Ich bin tief verletzt und werde nicht mehr mit H&M zusammenarbeiten." Ganz anders sah es die Mutter des Jungen, Terry Mango. Sie schrieb auf Facebook: "Hört auf die ganze Zeit zu zetern, das hier ist ein unnötiges Problem." Und hielt den Vorwurf von Rassismus für absurd: "Ich verstehe das wirklich nicht. Aber nicht, weil ich es nicht will, sondern weil das nicht meine Art zu denken ist." Ihre Haltung lässt sich zusammenfassen als: 

 

„Man kann sich über alles aufregen, aber man muss nicht.“

In unserer Gesellschaft gibt es mittlerweile eine große Gruppe, die sich leidenschaftlich gerne echauffiert. Man hat den Eindruck, sie sucht überall nach Möglichkeiten, entweder sich oder Randgruppen beleidigt, diskriminiert oder verletzt zu sehen. Lidls diesjährige Muttertagskampagne wurde von ihnen als sexistisch zerrissen und wo immer es ihnen möglich ist, in Äußerungen von Unternehmen oder Politikern Rassismus, Islamophobie, Frauenverachtung oder eine rechte Gesinnung hinein zu deuten, wird es voller Emotionalität getan. Aber wozu? Weil es dem Gehirn der Kritiker eine massive Ausschüttung der Hormone Dopamin und Serotonin beschert und damit ein starkes Glücksgefühl. Denn wem es gelingt, andere als die vermeintlich Bösen zu entlarven, stellt sich automatisch auf die Seite des Guten. Dabei ist es egal, ob man sich als gekränktes Opfer sieht, als Kämpfer/in für die Sache der eigenen Bevölkerungsgruppe oder als Robin Hood solcher Gruppen, die man als schwach und damit schutzbedürftig definiert hat – unabhängig davon, ob diese überhaupt beschützt werden wollen oder müssen. Immer verschafft sich der Kritiker einen Glückskick, wenn es ihm gelingt, Interpretationsmöglichkeiten zu finden, die einen Shitstorm oder eine von Betroffenheit und Erschütterung getragene Anklage rechtfertigen. 

So wie Menschen mittlerweile Facebook-süchtig sind, weil jeder Like ein Glückshormon-High auslöst, gibt es auch „moralische Überlegenheits“-Süchtige. Ihr Blick auf die Welt und ihre Handlungen werden von ihrer Amygdala (Gefühlszentrum) bestimmt, nicht vom Frontalhirn, wo wir logisch-analytisch und faktenbasiert denken. Das macht es schwierig, mit ihnen vernünftig zu argumentieren.

Auch wenn Ihnen als Unternehmer eine solche Struktur fremd sein dürfte, empfehle ich Ihnen, prophylaktisch Ihre Produkte und Kommunikationsmaßnahmen durch die Brille dieser selbsternannten Kämpfer für eine bessere Welt zu betrachten. Dadurch lassen sich unerwünschte Angriffe in vielen Fällen verhindern.